Salutogenese (Gesundheitsentstehung)

Zum Thema GESUNDHEIT findet sich im „Pschyrembel – klinisches Wörterbuch“ (Enzyklopädie für das Wissensgebet Medizin) folgender Eintrag: 1. „Nach der Definition der WHO (Word Health Organisation) ist Gesundheit ein Zustand körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ 2. i.e.S. das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger oder seelischer Störungen oder Veränderungen bzw. ein Zustand, in dem Erkrankung und pathologische Veränderungen nicht nachgewiesen werden können; 3. im Sozialversicherungsrechtlichen Sinne der Zustand, aus dem Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit resultiert.“

Während meiner 6 Jahre Medizinstudium beschränkte sich die „Auseinandersetzung“ mit diesem Thema in den Vorlesungen nur auf die WHO-Definition, die vom vortragenden Professor zudem noch mild als illusorisch belächelt wurde.
Gesundheit war also, wie ich verwunderte feststellte, für Mediziner in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Thema, mit dem man sich beschäftigte.

Zur gleichen Zeit wurde der Begriff SALUTOGENE von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky geprägt; der dann (zumindest habe ich das so wahrgenommen) ab den 90er Jahren in Medizinerkreisen Beachtung fand.

Dennoch, so finde ich, wird weder in Medizin, noch in Politik oder Pädagogik ausreichend an Themen der Prävention (Vorbeugung) von Krankheit und somit an körperlicher und psychischer Gesundheitsentstehung gearbeitet.

Beschäftigt man sich immer nur mit der Beseitigung krankhafter Zustände, also mit der Pathologie, kann das eigentliche Ziel der Gesundheit abhanden kommen.
Antonovsky
, 1990:„Das Mysterium der Gesundheit zu erklären ist eine radikal andere Herausforderung, als Krankheit zu erklären.“
Der Begriff Salutogenese beschreibt die Bedingungen, unter denen sich Gesundheit entwickelt und wodurch sie gefördert werden kann.

Schon Wilhelm Reich hatte in seiner „Charakteranalyse“ (1933) nicht nur die Störungen beschrieben, d.h. die Neurosen und ihre Therapie, sondern mit dem „genitalen Charakter“ auch gesunde seelische Strukturen, die sich in einer adäquaten lebensbejahenden Bewältigung des Schicksals ausdrücken.

Georges Canguilhem betrachtet Gesundheit als eine „Sicherheitsreserve an Reaktions-möglichkeiten“ und schreibt (1950): „Der gesunde Organismus strebt weniger danach, sich in seinem aktuellen Zustand und seiner gegebenen Umwelt zu erhalten; er strebt nach Verwirklichung seines Wesens. Zu diesem Zweck jedoch muss der Organismus Risiken eingehen und dabei aktuelle Katastrophenreaktionen in Kauf nehmen. Der gesunde Mensch stellt sich den Problemen, welche aus den oftmals erprobten Veränderungen seiner Gewohnheiten – selbst der bloß physiologischen – entstehen; er misst seine Gesundheit an der Fähigkeit, die Krisen seines Organismus zu überstehen und eine Ordnung zu etablieren.“

Das erinnert an Konfuzius (551 – 479 v.Chr.), der ja auch ständige Veränderung als Notwendigkeit zum Gesundbleiben beschrieben hatte.

Der Ausspruch „Non est vivere sed valere vita est.“ des römischen Dichters Marcus Valerius Martialis (40-103 n.Chr.) kann in etwa übersetzt werden mit: „Es geht nicht allein darum zu leben, sondern um ein Leben mit Lebensqualität.“

Oder greifen wir zu dem berühmten Monolog, von dem die meisten nur die ersten drei Wörter kennen: „Sein oder Nichtsein, …“.
Für Shakespeares Hamlet ist es also die Frage: „Ob´s edler im Gemüt, die Pfeil´ und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden, oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden.“

Kurz zusammengefasst ist das Leben eine sexuell übertragbare Krankheit, die tödlich endet.

Oder – vornehmer – Antonovsky: „Das Leben, unser Leben, bedeutet ständigen Fluss, ständige Veränderung – und darüber steht immer der Gedanke an den Tod, der den Menschen früherer Zeiten ständig buchstäblich vor Augen stand, während wir ihn heute weitgehende in die Seitenkammern der Krankenhäuser verbannt haben.“

„Memento mori“ (Erinnere dich des Todes), heißt es in den großen Kirchen aller Epochen.

In vielen Kirchen, gerade auch in denen des lebenslustigen Barock, erinnert eine große Uhr hoch über dem Altar an die Endlichkeit unseres Daseins.  In der großartigen astronomischen Uhr des Straßburger Münsters schlägt der Tod die Stunden, während die Lebensalter in Gestalt des Mannes im besten Alter und zuletzt des Greises an ihm vorbeiziehen …

Die Vorstellung von absoluter Gesundheit ist damit hinfällig: Weder Gesundheit noch Krankheit können als absolute Größen, sondern nur als die Pole eines Kontinuum angesehen werden.
Es bleibt also, wie immer, eine Frage der (willkürlichen und/oder gesellschaftlich verabredeten) Definition, was wie gedeutet und beschrieben wird.

Als Ärzte stünden wir unter einem völlig inadäquaten Druck, strebten wir gemeinsam mit dem Patienten nach absoluter Gesundheit: Nichts ist destruktiver als eine falsche Ideal-vorstellung.

Realistisch betrachtet, stellt unser Körper durch seine genetischen Ausstattung, die nur allgemeine, keine spezifischen Fertigkeiten anbieten kann, ein Übermaß an Möglichkeiten zur Verfügung – und, je nach dem, welche Funktionen wir benutzen, werden unsere Fähigkeiten ausgebildet; während sich andere Potentiale nie entwickeln, wenn die in einer Entwicklungsphase notwendigen Informationen und Handlungsabläufe nicht da sind oder eingeübt werden. Später läßt sich aus dem Vorhandenen immer noch vieles bewerkstelligen, immer aber bleiben wir (bisher) weit hinter unseren Möglichkeiten zurück.

Es gilt also herauszufinden, in welchem Milieu sich welche Fähigkeiten entwickeln und welche Ressourcen (franz. = Mittel, Quellen) später noch erschlossen werden können. Dabei bleibt als grundlegende Basis, mit den angeborenen und entstanden Fertigkeiten und Defiziten des eigenen Körpers und Geistes so gut wie möglich umzugehen. Das beinhaltet freilich, die Möglichkeiten der modernen Medizin auszuschöpfen, sie aber nicht überzustrapazieren.

Dem Lauf des Lebens von der Säuglingszeit bis zum Greisenalter müssen wir uns also stellen – und jeweils vernünftige Strategien finden, das Beste daraus zu machen.

Den Jugendwahn, der das Altern ignoriert und entwertet, kann man derzeit immer noch allenthalben begegnen: Da ziehen sich Greise wie pubertierende Jugendliche an, versuchen mit Zusatzstoffen in der Nahrung, mit obskuren Hormonen, Diäten, Spritzen und Operationen zu ersetzen, was verloren geht.

Aber schon Shakespeare sagte dazu ein einem Sonett: „Wenn vierzig Winter einst dein Haupt umnachten, und tief durchfurchen deiner Schönheit Feld, dann ist dein Jugendflor, wonach wir jetzt so trachten, ein mürbes Kleid, das unbemerkt zerfällt.“
Und in einem Text, der 1692 in der St. Paul´s Kirchen in Baltimore gefunden wurde, heißt es u.a.: „Nimm gütig den Rat der Jahre an und lass mit Anmut die Dinge der Jugend hinter dir.“

Aber zurück zur Salutogenese, der Lehre von den Möglichkeiten, aus unserem Leben das Beste zu machen – und damit letztlich auch zum Ziel dieses Textes, nämlich zu erkennen: „Leben ist potenziell salutogenetisch“.
Darin besteht für Antonovsky, der das so ausdrückt, das wahre Geheimnis, warum einige Menschen weniger Leid erleben als andere und sich auf dem Gesundheit-Krankheit-Spektrum auf der Gesundheitsseite befinden.

Gesundheit wird nicht als zufällig bestehender Zustand betrachtet, sondern als die Regulationsfähigkeit einer Person in ihrer Umwelt. Sie ist ein dynamischer Prozess, der Veränderung und ständiges Sich-Anpassen notwendig macht. Infolgedessen kann ergründet werden, ob und wie diese Fähigkeit zur Flexibilität gefördert werden kann.

Die salutogenetische (gesundheitserzeugende) Betrachtungsweise weist die zentrale Annahme der Stressforschung zurück: nämlich dass Stressoren pathogenetische (krankheitserzeugende) Konsequenzen haben.
Statt dessen können Stressoren als ein Potential angesehen werden, dessen – positive, neutrale oder negative – Konsequenzen offen sind.
Dabei geht es vor allem darum, dass nicht die Stressoren selbst (die Menge bzw. die Intensität des Stresses) die Konsequenzen positiver oder negativer Art hervorrufen, sondern die Verarbeitung der Information.

Antonovsky beschreibt einen „SOC – Sense of Coherence (Kohärenzsinn)“.
Er beschreibt, als „eine Grundorientierung, die das Ausmaß eines umfassenden, dauerhaften und dynamischen Gefühls des Vertrauens ausdrückt, dass unsere eigene innere und äußere Umwelt vorhersehbar ist und dass eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Dinge sich so gut entwickeln werden, wie man es vernünftigerweise erwarten kann.“

Um diesen Sinn zu beschreiben, benutzt er interessanterweise den deutschen Terminus „Weltanschauung“. Sie kann zusammengefasst werden als eine Dimension im geistig-psychischen Bereich: als eine „relativ stabile Orientierung eines Individuums in seiner Umwelt und seinem eigenen Leben gegenüber …, als Glaube an ein verständliches, bedeutungsvolles und beeinflussbares Leben und die Überzeugung, sich in einer verstehbaren und beeinflussbaren Welt zu befinden.

Neben der Fähigkeit zum Widerstand gegen die Widrigkeiten des Lebens gibt es natürlich auch die Schwachstellen: geringes Selbstwertgefühl, Isolation, Zugehörigkeit zu einer sozial schwachen Gesellschaftsschicht und andere negative Erfahrungen oder körperliche Gebrechen, die bestimmte Entwicklungen einschränken.

Das Gemeinsame an den Widerstandsressourcen dagegen ist: den unzähligen, uns ständig treffenden Stressoren eine positive Bedeutung zu erteilen. Indem sie uns wiederholt die Erfahrung einer sinnvollen Welt erlauben, generieren sie mit der Zeit einen starken Kohärenzsinn.

Natürlich entsteht der Kohärenzsinn erst im Laufe des Lebens und stabilisiert sich, laut Antonovsky, um das 30. Lebensjahr: „Vielleicht der stärkste Faktor auf dem Weg zu einem starken Kohärenz-Sinn ist die Sozialisation in einer Kultur, die einen Kanon, einen fixierten Satz von Basisregeln bereithält. In der Auseinandersetzung mit einer konkreten Situation kann man diese Regeln dann flexibel anwenden.“

Große Bedeutung kommt hier der Familie und der frühen Lebenserfahrung, insbesondere auch der vorgeburtlichen Zeit zu. Denn in der Mutter und in der Familie finden die grundlegenden, Körperwerdenen Erfahrungen statt. Insofern ist dieses Umfeld, nach wie vor, die Sozialisationsinstitution Nummer Eins.

Wenn die Familie nicht mehr funktioniert, womöglich nicht mehr existiert, suchen sich Kinder Ersatzfamilien – im Fußballverein, der Kirche, in der Clique oder in Figuren, die sich in den neuen Medien finden lassen.

Bedeutsam und ausgebaut wird, was bekannt ist und was wiederholt wird. Entsprechend wichtig sind z.B. in Familien – auch in gestörten – ist das Aufrechterhalten von Ritualen wie gemeinsamen Mahlzeiten, Geburtstags- und Weihnachtsfeiern, etc..
Antonovsky, wie auch die modernen Neurowissenschaften, mehmen die Familie / das soziale Umfeld sehr ernst.

Was immer wir auch tun, es ist kontextabhängig; oder wie Maturana und Varela in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ schreiben: „Wir existieren nur in der Welt, die wir uns mit anderen zusammen schaffen und die auf uns zurückwirkt; also in einer sozialen Welt, in der wir auf die anderen angewiesen sind und die daher das Akzeptieren des anderen voraussetzt.“ An einer anderen Stelle sagen sie: „Realität ergibt sich aus dem erkennenden Tun des Beobachters, der Unterscheidungen trifft. Realität erweist sich als Konzept.“

Für Antonovskys Konzept vom Kohärenzsinn zeigten sich, bei seinen Untersuchungen von gesunden Holocoust-Opfern, also schwertst und multi-traumatisierten Menschen, folgende Bestandteile als besonders bedeutsam:

Vorhersagbarkeit          Machbarkeit          Sinnhaftigkeit.

Ereignisse begreifen: Comprehensibility (so der englische Originalbegriff), übersetzt als Vorhersagbarkeit, bedeutet: nicht von dem Gefühl beherrscht zu sein, sich inmitten von Chaos zu befinden.

Positiv ausgedrückt: dass ein Mensch die Stimuli, Aufforderungen und Zumutungen, mit denen er durch seine innere und äußere Welt konfrontiert wird, als einigermaßen strukturiert, interpretierbar und vorhersagbar empfindet.

Es geht hier also um die kognitiven, verstandesmäßigen Aspekte der Weltbetrachtung: „Ich kann meine Erlebnisse begreifen und für mich ordnen.“

Ereignisse gestalten: Manageablility, übersetzt mit Machbarkeit oder Handhabbarkeit meint: das Ausmaß der Überzeugung, selbst unter Belastung noch Ressourcen mobilisieren zu können.

Hier ist die (tatorientierte) Fähigkeit benannt, in Situationen  Möglichkeiten von der Reaktion zu erkennen und die Fähigkeit, diese zu ergreifen bzw. das Vertrauen darauf, aus eigener Kraft oder mit fremder Unterstützung auf die Entwicklungen und Ereignisse Einfluss nehmen zu können: „Ich habe die Mittel, die Fähigkeit und das Zutrauen, zu Handeln und meine Welt (mit) zu gestalten.“

Ereignisse (sinngebend) deuten: Meaningfullness oder Sinnhaftigkeit beschreibt schließlich den emotionalen Aspekt des Kohärenzgefühls.
(Diesen Glauben an einen Sinn des eigenen Handelns betrachtet Antonovsky als den entscheidenden.)

Es meint die Überzeugung, dass die als machbar erkannten Anforderungen ein Eingreifen und Engagement lohnend und sinnvoll machen: „Ich bin in der Lage, Ereignissen einen Sinn zuzuordnen, Hoffnung zu generieren und mir Ziele zu stecken, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.“

Was bedeutet dieses Konzept für den Alltag?
Wir sind also bei einer tieferen Vorstellung von Gesundheit gelandet, die viele ungewohnte Aspekte umfasst.

Am wichtigsten scheint mir die Einsicht zu sein, dass wir alle Bemühungen um Gesundheit eingebettet sehen in einen größeren Zusammenhang.
Sogar Evolution (vom lateinisch evolvere „ausrollen, entwickeln, ablaufen“) erscheint so als Produkt von Cooperation – und nicht auf „Fitness“ reduzieret – abgeleitet vom „Survival of the fittest.“ (Überleben der Stärksten) von C. Darwin.

Mit der richtigen Einstellung / Weltanschauung finden wir Wege, das Gut unserer Gesundheit zu schützen und zu pflegen – und auch wiederherzustellen. Wir können aber auch sehen: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“



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