Persönlichkeitsentwicklung

Gerhard Roth und Nicole Strüber (2014) leiten ihr Buch über die Fortschritte der Neurowissenschaften >Wie das Gehirn die Seele macht< wie folgt ein: „Seit Menschen damit begonnen haben, über sich und ihre Existenz nachzudenken, war ihnen das eigene Fühlen, Denken, Handeln rätselhaft, und auch die Welt um sie herum war voller geheimnisvoller Vorgänge.
Doch durch Naturbeobachtung und damit verbundene mythisch-religiöse Vorstellungen lernten sie zunehmend Ordnung in diese Welt zu bringen.
Durch die Zeit wurden die religiösen Anschauungen über die Natur und den Gang der Dinge zunehmend durch wissenschaftliche Erklärungen ersetzt, so dass es zu einer Entzauberung der Welt kam.
Heutige Vorstellungen gehen von der Einheit der Natur aus, in der für die unbelebte Natur dieselben Prinzipien gelten, wie in der belebten Natur.
Insbesondere über das Verständnis von Selbstorganisationsprozessen überall in der Natur haben viele zuvor als selbstverständlich und notwendig angesehenen Kräfte, wie auch ihre mythischen und religiösen Erklärungen, ihren Alleinanspruch auf eine letzte Wahrheit verloren.“

2007 schreibt ihr Kollege Fuchs in >Das Gehirn – ein Beziehungsorgan<: „Das Gehirn ist vor allem ein Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt und für unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Interaktionen verändern das Gehirn fortlaufend und machen es zu einem biographisch, sozial und kulturell geprägten Organ. Fazit: Es ist nicht das Gehirn für sich, sondern der lebendige Mensch, der fühlt, denkt und handelt.“
Mittlerweile rechnen Wissenschaftler, neben dem Gehirn, auch unsere ca. 2 kg mikrobiellen Mitbewohner zu den uns biochemisch mit-beeinflussenden Faktoren.

Neben diesen zeitgeschichtlich-historischen Mitgaben der Natur sind es unsere ganz persönlichen Erfahrungen in ganz individuellen Umwelten und Zeiten, die uns prägen.

2000 formulierte der Neurowissenschaftler Fuchs, in >Leib, Raum, Person, Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie< dazu: Mit der Beobachterposition und dem Erleben, dem Bewusstwerden des „Erblicktwerdens“ und der zugehörigen Scham beginnt das Reflexive, das Selbstbewusstsein.

Auf die entscheidende Rolle der Kindheit hatte der Psychoanalytiker Freud (1856-1939) erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht.
Und erst 1979 legte Lloyd de Mause einen , von Fachhistorikern verfassten, erstenÜberblick über die >Geschichte der Kindheit< vor. Denn lange
galt Kindheit im Bewusstsein der Menschen nicht als wesentliche Entwicklungsphase; das Kind war lediglich ein kleiner Mensch, der nicht viel konnte.
In dem Moment, in dem die Idee der Entwicklung akzeptiert und das Kind nicht länger als ein missgebildeter Erwachsener betrachtet wurde, standen die zwei Hauptaufgaben des Kinderpsychologen fest: Er muss den Beginn der Entwicklung beschreiben – das Problem des Ursprungs – und er muss einen Mechanismus der weiteren Entwicklung „postulieren“ – das Problem der Veränderung –.“ (Kessen, Child – Perspectives in Psychology, 1965)
Beim Problem des Ursprungs geht es sowohl in die Evolutionsgeschichte der Menschheit, aber auch immer wieder in die persönlichen Entwicklungs-geschichten von Kindern, die uns Rückschlüsse für Hypothesen, also Annahmen, Behauptungen, Mutmaßungen, Unterstellungen, erlauben. Dem Problem der Veränderung nähern sich Wissenschaftler mittlerweile mit vielerlei Verhaltensbeobachtungen, Tests und neurologisch untersuchten Versuchsanordnungen.
Der Entwicklungspionier Piaget (1896-1980) interessierte für den Ursprung des Wissens und wie ein Kind lernt, wie es seine kognitiven (= die Erkenntnis betreffenden) Strukturen durch die Bewegung mit seiner Umwelt verändert. Er beschrieb Assimilation (= Veränderung und Anpassung der Umwelt an die Schemata) und Akkomodation (= Veränderung und Anpassung der eigenen Schemata an die Umwelt) als wichtigste Prinzipien von Entwicklung.
Für Freud (1856-1939) war der wichtigste Punkt in der menschlichen Entwicklung das Problem des Seins. Er ließ die physische Welt um uns herum unbeachtet (oder nahm sie als gegeben an). Sein Interesse galt den Konsequenzen und Folgen, die sich aus dem Zusammensein des Kindes mit anderen Leuten ergeben; ferner den Impulsen und biologischen Trieben, die dem Geist oder dem Körper des Kindes entspringen. Nach Freud entwickelt sich die Persönlichkeit aus einer Vielzahl von Wechselwirkungen zwischen bilogisch-sexuellen Bedürfnissen (die zu seiner Zeit tabuisiert waren) und der Art und Weise, in der soziale Kräfte diesen Bedürfnissen stattgeben oder sie unterdrücken.
Erikson (1901-1980) veröffentlichte 1950 drei Beiträge zur Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, die sich auf klinische Beobachtungen an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stützte. Er beschreibt, parallel zu den psychosexuellen Phasen Freuds, psychosoziale Phasen der Ich-Entwicklung, innerhalb derer das Individuum eine neue Auffassung von sich und anderen Leuten seiner sozialen Umwelt entwickelt, sich also als Persönlichkeit kontinuierlich während aller Phasen des Lebens weiterentwickelt. Denn jede Phase fordert neue soziale Interaktionen, die den Verlauf der Persönlichkeits-entwicklung in eine positive oder negative Richtung lenken kann.

Heute weiß man, dass insbesondere in der frühen Kindheit, aber auch später noch (Neuroplastizität), im Gehirn zu bestimmten Zeiten für bestimmte Entwicklungsschritte sehr viele Verbindungen zwischen den Nervenzellen zur Verfügung gestellt werden. Passen die Entwicklungsanreize aus der Umgebung zu den phasengerecht in diesem Alter zu absolvierenden Lernschritten, stabilisieren sich die neuronalen Netzwerke im Gehirn, andernfalls werden die Kommunikationswege der Nervenzellen zurückgebaut. Fehlende, unpassende oder gar verletzende Entwicklungsanreize haben fatale Folgen; denn, was trainiert wird, bleibt.
Auch später werden wir immer nur in dem besser, was wir üben.

Im Alltag ist es eine der vornehmsten Aufgaben des Gehirns, Ähnlichkeiten zu erkennen und zu konstruieren, damit wir uns in der Welt orientieren können, damit wir zweckgerichtet Handeln können.
Das beinhaltet etliche Fehleinschätzungen und Missverständnisse, die durch Versuch und Irrtum korrigiert werden.

Einen guten Überblick über die kindliche Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsbereichen während der so wichtigen ersten Lebensjahre findet sich z.B. auf der Internetseite: www.knetfeder.de/kkp/motorik.html.
Während der acht Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson, ist von der Geburt bis ins hohe Alter (siehe Ruch, Zimbardo: Lehrbuch der Psychologie, 1975) in jeder Phase ein bestimmter Konflikt aktuell – und obgleich dieser Konflikt nie ein für alle Mal gelöst wird, muss er doch einigermaßen überwunden werden, damit das Individuum die Konflikte der folgenden Phasen erfolgreich überstehen kann:
I. Vertrauen versus Ur-Mißtrauen (1. Lebensjahr; entspricht der oralen Phase bei Freud)
Je nach Art der ihm widerfahrenen Pflege lernt der Säugling entweder seiner Umwelt zu vertrauen, sie als geordnet und vorhersagbar zu betrachten, oder aber ihr zu misstrauen, sie zu fürchten, sie als unberechenbar und chaotisch wahrzunehmen.
II. Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr; entspricht der analen Phase bei Freud)
Aus der Entwicklung der motorischen und geistigen Fähigkeiten und der Möglichkeit zu explorieren (= forschen, prüfen) und zu manipulieren (= handhaben), entsteht ein Gefühl der Autonomie (= Selbständigkeit), Adäquatheit (= Angemessenheit) und Selbstkontrolle. Übermäßige Kritik oder die Einschränkung der Exploration und anderer Verhaltens-weisen des Kindes führt zu einem Gefühl der Scham und des Zweifels über seine Fähigkeiten.
III. Initiative vs. Schuldgefühl (4. und 5. Lebensjahr; entspricht der phallischen Phase bei Freud)
Die Art und Weise, in der Eltern auf die Eigeninitiative ihrer Kinder reagieren – wobei sowohl intellektuelle (= geistige) wie motorische (= der Bewegung dienenden) Verhaltens-weisen gemeint sind – ruft in den Kindern entweder ein Gefühl der Freiheit und Initiative (= Fähigkeit aus eigenem Antrieb zu handeln) hervor oder aber ein Schuldgefühl und das Gefühl, unerwünscht in die Erwachsenenwelt eingedrungen zu sein.
IV. Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. bis 11. Lebensjahr; entspricht der Latenzphase bei Freud)
Das Kind interessiert sich dafür, wie Dinge funktionieren und wie sie funktionieren sollten. Diese Phase ist durch das Formulieren von Regeln, durch Organisieren, Ordnung und Betriebsamkeit gekennzeichnet. Werden jedoch diese Anstrengungen als dumm, frech oder störend hingestellt, so entwickelt sich beim Kind ein Gefühl der Minderwertigkeit. – Während dieser Phase kommen zum ersten Mal die Kräfte außerhalb des Elternhauses ins Spiel und beginnen einen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes zu haben.
V. Identität vs. Rollendiffusion (Jugendalter, von 12 bis 18 Jahren)
Während dieser Zeit eröffnen sich dem Jugendlichen neue Wege der Wahrnehmung, er kann Dinge vom Gesichtspunkt anderer aus betrachten und verhält sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich, je nachdem, wie es die Lage erfordert. Beim Spielen dieser verschiedenen Rollen muss die Person ihre eigene Identität (= Sich-gleich-bleiben im Wechsel der Zustände) erkennen lernen. Das Eigene kann (wird) von allen anderen Rollen und Erscheinungen verschieden sein, muss aber als Ganzes akzeptiert werden. Die Alternativen sind Verwirrung oder die Flucht in eine „negative Identität“ – also eine Rolle, die von der Gesellschaft nicht anerkannt wird, wie z.B. die des Drogensüchtigen.
VI. Intimität vs. Isolierung (junges Erwachsenenalter)
Der Erwachsene versucht, Kontakt mit anderen Leuten herzustellen. Daraus kann sich eine Intimität (= Vertrautheit) entwickeln (sexuelle, emotionale oder motorische Verpflichtungen anderen Personen gegenüber), oder es kann sich eine Isolierung  (= Vereinzelung, Absonderung) ergeben, die enge, persönliche Beziehungen ausschließt.
VII. Zeugende Fähigkeit vs. Stagnation (mittleres Alter)
Mit zeugender Fähigkeit (generativity) bezeichnet Erikson das über die eigene Person hinausgehende Interesse, welches sich für die Familie, die Gesellschaft oder zukünftige Generationen einsetzt. Ist dies nicht der Fall, dann konzentriert sich dieses Interesse auf das eigene Ich, dessen materielles und physisches Wohlergehen dann vorrangig wird.
VIII. Ich-Integrität vs. Verzweiflung (hohes Alter)
In der letzten Lebensphase blickt der Mensch zurück auf das, was gewesen ist, und voraus, auf das Unbekannte, das ihn erwartet. Auf Grund der erfolgreichen Konfliktlösungen, die er in den vorhergehenden Phasen entwickelt hat, kann er jetzt der Erfüllung seines Lebens mit Zuversicht entgegensehen; dies bezeichnet Erikson mit dem Gefühl der Integrität (= unbescholten, sauber Sein). Verzweiflung befällt denjenigen, dessen Leben „falsch“ und unbefriedigend verlief. Zu spät, um etwa im Zorn noch einmal zurückzublicken oder in Hoffnung der Zukunft entgegenzusehen, endet sein Lebenszyklus in völliger Verzweiflung.



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