Systemische Therapie
(In Anlehnung an: dt. Ärzteblatt, Jg. 106, Heft 5, 30. 1. 2009, Gutachten zur wissenschaftl. Anerkennung der Systemischen Therapie)
Definition
Von den Fachverbänden wird die Systemische Therapie als ein psychotherapeutisches Verfahren beschrieben, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt. Dabei werden zusätzliche zu einem oder mehreren Patienten („Indexpatientien“) weitere Mitglieder des für Patienten bedeutsamen sozialen Systems in die Therapie einbezogen. Die Therapie fokussiert auf die Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie oder des Systems und deren weiterer sozialer Umwelt.
Systemische Therapie betrachtet wechselseitige intrapsychische (kognitiv-emotive) und biologisch-somatische Prozesse sowie interpersonelle Zusammenhänge von Individuen und Gruppen als wesentliche Aspekte von Systemen. Die Elemente der jeweiligen Systeme und ihrer wechselseitigen Beziehungen sind die Grundlage für die Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen.
Indikationsbereiche (nach Angabe der Antragsteller)
Systemische Interventionen sind indiziert bei Erwachsenen in den Störungsbereichen Depressionen, Substanzstörungen, Schizophrenie sowie – in Kombination mit medizinischen Maßnahmen – die Bewältigung chronisch körperlicher Erkrankungen.
Für Kinder und Jugendliche sind systemische Interventionen angezeigt bei Störungen des Sozialverhaltens, jugendlicher Delinquenz, Substanzstörungen, Ess-störungen, Hyperaktivitätsstörungen, schweren psychischen Krisen und – in Kombination mit anderen Interventionen – bei der Bewältigung chronischer körperlicher Erkrankungen sowie bei Schizophrenie; insbesondere dann, wenn bei der Manifestation der psychischen Störung das soziale System des Indexpatienten eine besondere Rolle spielt.
Als wichtigste Kontraindikation wird genannt, das „das System“ keinen Behandlungsauftrag erteilt.
Therapie
Systemische Therapie wird als Weiterentwicklung der frühen Familientherapie der 50er- und 60er-Jahre in den USA begriffen. Die aktuelle Theorie der Systemische Therapie integriert verschiedene, historisch zeitgleich entstandene theoretische Ansätze zur Erklärung der wechselseitigen psychischen Beeinflussung von Menschen und ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung, wobei diese wiederum in Wechselwirkung zu kognitiv-emotiven und somatischen Prozessen der Einzelpersonen steht (Anderson, Boszormenyi-Nagy, de Shazer, Haley, Minuchin, Satir, Selvini-Palazzoli, Stierlin, Watzlawick, White, Zuk). Zu diesen Ansätzen zählen die Systemtheorie, die Kommunikationstheorie und der (gemäßigte) Konstruktivismus sowie die Bindungstheorie.
Die Ressourcenorientierung wird in besonderer Weise betont.
Die Systemische Therapie ist danach durch folgende Punkte gekennzeichnet:
• Es wird besonders auf die sozialen Bezüge eines „Indexpatienten“ fokussiert. Symptome werden auf unterschiedlichen Systemebenen (somatisch, kognitiv-emotiv und interaktiv) betrachtet. Sie resultieren aus sozialen Bezügen bzw. werden durch diese unterhalten und beeinflussen sie gleichzeitig („Zirkularität“). Dazu sind insbes. die Beziehungsregeln und –muster bedeutsam, die sich in „repetitiven „Inter-aktionsschleifen“ äußern.
• Da die Familie ein wichtiges Bezugssystem für den Erwerb und die Aufrechterhaltung sowohl von gesunden als auch pathologischen Strukturen der Interaktion darstellt, wird die Systemische Therapie häufig im Familiensetting (Familien- und Paartherapie) umgesetzt. Die Familie wiederum steht im Zusammenhang mit Strukturen auf kognitiv-emotiver und somatischer Prozessebene. Somit hat die Systemische Therapie einen gegebenen Schwerpunkt in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die in existenziellen Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen steht.
• Psychotherapeutische Interventionen sind methodisch so gestaltet, dass durch Beeinflussung der Kommunikationsmuster vor allem zirkuläre zwischenmenschliche Interaktionen verändert werden sollen. Es wird davon ausgegangen, dass durch Veränderung kommunikativer Prozesse krankheitsrelevante Änderungen im kognitiven, affektiven, behavioralen und ggf. biologischen System der Individuen angeregt werden.
• Die einzelnen psychotherapeutischen Techniken sind meist durch Problemaktualisierung und Handlungsorientierung gekennzeichnet. Unterschieden werden strukturelle Methoden (Joining, Enactment, Verändern von Koalitioenen etc.), strategische Methoden (positives Umdeuten / „reframing“ von Symptomverhalten, Symptomverschreibungen), symbolisch-metaphorische Methoden (Genogramm und Familienskulptur für die Darstellung komplexer familiärer und nicht familiärer Beziehungen), zirkuläre Methoden (systemisches Fragen, Entwicklung von Hypothesen, Bemühen um Neutralität, paradoxe Interventionen), lösungsorientierte Methoden (z.B. „Wunderfragen“) und dialogische Methoden („reflecting team“, offener Dialog zur Dekonstruktion narrativ hergestellter Wirklichkeiten).
• Das Therapeutenverhalten wird hinsichtlich der Beziehungsgestaltung zu einzelnen Mitgliedern des Systems als respektvoll (bei gleichzeitiger „Respektlosigkeit“ gegenüber pathogenen Ideen) sowie als neutral und „allparteilich“ charakterisiert.
Die Grundhaltung beinhaltet eine unterstellte Autonomie der Mitglieder des Systems und eine hohe Selbstverantwortung. Es wird davon ausgegangen, dass sich Veränderung oft selbst aus den ungenutzten Ressourcen des Systems einstellt, sodass Interventionen und Ratschläge nur sparsam gegeben werden. Über Interventionen soll das System angeregt werden, durch das Infragestellen der eigenen Gesetzmäßigkeiten einen neuen Zustand zu erreichen. Dadurch kann sich auch das Verhalten des „Indexpatienten“ auf einem „gesünderen“ Niveau neu stabilisieren.
• „Integrative Ansätze“ mit wesentlichen Anleihen bei anderen psychotherapeutischen Verfahren oder Methoden werden von den Antragstellern dann als systemisch bezeichnet, wenn zumindest die Hälfte des Ansatzes aus „systemischen Interventionen“ besteht. Es wird davon ausgegangen, dass die Systemische Therapie von anderen Psychotherapie-verfahren und –techniken (kognitiv-behavioral, psychoedukativ, psychodynamisch) oder anderen familien- und paartherapeutischen Strategien abgrenzbar ist.
Diagnostik
Als spezifisch systemorientierte diagnostische Verfahren werden psychometrische und anerkannte diagnostische Verfahren zur symptomorientierten Diagnostik, zur Diagnose familiärer und partnerschaftlicher Interaktionen (standardisierte Beobachtungsverfahren) und zur Fragebogendiagnostik der Einschätzung von Familie als Ganzem (u.a. Familien-Identifikationstest (FIT), Familiendiagnostisches Testsystem (FDTS), Family Adoptability and Cohesion Scales (FACES III), Subjektives Familienbild (SFB), zur Partnerschaft (z.B. Partnerschaft-Fragebogen (PFB), zur Eltern-Kind-Beziehung, zu Erziehungsstilen und zu Geschwisterbeziehungen genannt. Eine Besonderheit der Systemischen Therapie ist der Einsatz symbolisch-metaphorischer Verfahren (u.a. Genogramm und Familienskulptur). Es liegen mehrere psychometrische evaluierte Familienskulptur-verfahren vor (z.B. Familien-Systemtest (FAST). Weiterhin werden im Rahmen der Forschung Verfahren zur Therapieevaluation und Qualitätssicherung sowie Ratings zum Therapeutenverhalten und zur Manualtreue beschrieben.
Wirksamkeitsnachweis
Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie hat 1999 festgestellt, dass auf der Grundlage damals verfügbaren Studien die Systemische Therapie nicht als anerkanntes wissenschaftlich Therapieverfahren eingestuft werden konnte. 2008 fand eine Neubewertung statt; gestützt u.a. auf die Monografie von v. Sydow, Beher, Retzlaff & Schweitzer (2007) zur Wirksamkeit der Systemischen Therapie / Familien-therapie. Göttingen: Hogrefe. Danach wurde, gemäß den anzuwendenden Bewertungskriterien, die wissenschaftliche Anerkennung der Systemischen Therapie für die folgenden Anwendungsbereiche festgestellt:
bei Erwachsenen
• Affektive Störungen (F3)
• Essstörungen (F50)
• Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54)
• Abhängigkeiten und Missbrauch (F1, F55)
• Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2)
bei Kindern und Jugendlichen
• Affektive Störungen (F30 bis F39) und Belastungsstörungen (F43)
• Essstörungen (F50) und andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5)
• Verhaltensstörungen (F90 bis 92, F94, F98) mit Beginn in der Kindheit und Jugend und Tic-Störungen (F95)
• Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60, F62, F68 bis F69), Störungen der Impulskontrolle (F63), Störungen der Geschlechtsidentität und Sexualstörungen (F64 bis F66), Abhängigkeit und Missbrauch (F1, F55), Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F20 bis F29).
Anwendung der Systemischen Therapie in der Versorgung
Die Systemische Therapie wird seit Langem im Kontext stationärer und ambulanter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungen sowohl im Erwachsenenbereich, vor allem aber im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie eingesetzt. Über die heilkundliche Anwendung hinaus spielt die Systemische Therapie auch in verschiedenen anderen psychosozialen Bereichen eine bedeutende Rolle, insbes. als Ansatz in Familien- und Erziehungs-beratungsstellen.
Aus-, Weiter- und Fortbildung
Von den beiden systemischen Fachgesellschaften und den systemischen Aus-, Weiter- und Fortbildungsinstituten liegen curriculare Konzepte vor, nach denen sowohl die theoretischen Grundlagen als auch das praktische therapeutische Vorgehen vermittelt werden.