Psychische und motorische Entwicklung von Kindern

Ein wichtiges entwicklungspsychologisches Prinzip besagt, dass Reifungsvorgänge in unserem Gehirn aufeinander aufbauen und einander bedingen.

Das bedeutet in der Praxis, dass jede neue Entwicklungsphase des Menschen auf der vorausgegangenen aufbaut und dass das Gelingen eines bestimmten Entwicklungsabschnittes für die erfolgreiche Bewältigung des nächsten die Voraussetzung ist.

Progressive (= fortschreitende) Reifungsschritte beinhalten Strebungen nach Autonomie und Selbstverwirklichung. Dies erfordert Mut und Aktivität, im guten Sinne aggressive (= auf jemanden oder auf etwas zugehende) Selbstbehauptung, Kreativität und Intelligenz, aber auch soziale Kompetenz.

Wenn ein Kind diese Seite seiner Entwicklung vorantreibt, werden Kräfte verbraucht, wodurch Bedürfnisse nach Passivität und Erholung wachgerufen werden. Durch solche regressiven (= rückwärts gerichtete) Strebungen kommt es zu vorübergehenden Rückfällen in Verhaltensweisen vorhergehender Entwicklungsphasen, die hier als gesunde Regression im Dienste des „Ich“ verstanden werden. Wenn allerdings die Entwicklung stagniert – z.B. wegen einer zu ausgeprägten Abhängigkeit von einem Elternteil – und die regressiven Bedürfnisse ein Übergewicht bekommen, kann die Regression als ein Abwehrmanöver gegenüber Ängsten verstanden werden, die eine progressive Entwicklung mit sich bringen würde. Dann können Symptome von Krankheitswert entstehen.

Die menschliche Entwicklung vollzieht sich von Geburt an in einem Spannungsfeld:
Auf der einen Seite bestehen Bedürfnisse, die sich an die nachstehenden Personen richten; es sind Wünsche nach Sicherheit und Geborgenheit, die durch Verlässlichkeit und Verbindlichkeit garantiert werden.

Hinzu kommen Bedürfnisse nach Kontakt durch Nähe, Zuwendung und Intimität. Alles sind dies die so genannten objektbezogenen Bedürfnisse. Dazu zählen auch die Bindungsbedürfnisse: in Bedrohungssituationen suchen der Säugling und das kleine Kind Schutz bei den nahen Pflegepersonen.

Auf der anderen Seite stehen Bedürfnisse nach Abgrenzung, Unterschiedlichkeit (= Differenz), Unabhängigkeit (= Autonomie), Entwicklung eigener Individualität und Identität, Freiheit und Selbstverwirklichung. Alle diese werden selbstbezogene (= narzisstische) Bedürfnisse genannt.

Idealerweise stellen diese beiden Bedürfnispole einander ergänzende Strebungen dar, die sich im Sinne eines „sowohl-als-auch“ nacheinander und miteinander verwirklichen.

Ganz allgemein gilt: Sich in einer vertrauensvollen Beziehung aufgehoben zu fühlen, ist geradezu die Voraussetzung für das Gelingen von Selbstverwirklichung außerhalb der Beziehung. Umgekehrt kann Nähe und Intimität in einer Zweierbeziehung gerade dann lustvoll erlebt werden, wenn eigene Autonomie und Selbstverwirklichung außerhalb der Beziehung in ausreichendem Umfang realisiert werden.

Das lockere Pendeln zwischen den Bedürfnispolen erweist sich im realen Leben als eine immerwährende Herausforderung und als Quelle einer Vielzahl von Konflikten.
Dennoch bedürfen und ergänzen die scheinbar so gegensätzlichen Strebungen und Grundbedürfnisse einander, ja ihre Befriedigung bedingt sich sogar gegenseitig.
Allerdings ist die Befriedigung eines dieser Bedürfnisbereiche (immer) mit einem gewissen Maß an Angst verbunden und es braucht viel Mut, den Weg zu gehen. So kann es zu einer „Schieflage“ in Richtung eines der beiden Pole kommen. Wenn das geschieht, resultieren (= entspringt, die Folge von etwas sein) nicht selten Störungen und Symptome.

Ein Beispiel:
Die Hyperaktivität (= Über-Aktivität; Aktivität, bewertet an den Erwartungen einer spezifischen Umwelt) eines Schulkindes z.B. kann aus einer Angst resultieren, in der Lernsituation zu versagen. Wenn der Schüler im Unterricht etwas nicht versteht, bestünde eine progressive Bewältigung darin, den Mut zu haben, vor der ganzen Klasse den Lehrer zu fragen.

Wenn das Nicht-Mitkommen aber wegen einer ausgeprägten Selbstunsicherheit eine große Beschämung für das Kind bedeutet, wird es dies nicht wagen. Stattdessen wird es die Flucht aus der Situation ergreifen – entweder durch Unaufmerksamkeit und Träumerei oder indem die entstandene Spannung (regressiv) motorisch (= sich bewegend) abreagiert wird.

Dies wäre ein Beispiel für eine Störung im narzisstischen Gleichgewichts des Kindes, z.B. durch mangelnde Autonomieentwicklung bei zu starker Abhängigkeit von einem Elternteil (z.B. Prinzenrolle). Sonst umsorgt, nun in der Unterrichtssituation auf sich allein gestellt, entstehen Versagensängste, die wiederum zu Lernblockaden führen.

Die Phasen der regulären psychomotorischen Entwicklung des Kindes
Unser neueres Wissen über die vorgeburtliche Entwicklung des Kindes im Mutterleib sowie des Säuglings im ersten Lebensjahr hat unsere Vorstellung über die psychomotorische Reifung des Kindes grundsätzlich geändert:

Während früher angenommen wurde, die psycho-motorische Entwicklung setze einige Monate nach der Geburt ein, weiß man heute, dass schon das ungeborene Kind Erfahrungen sammelt, auf denen es nach der Geburt aufbauen kann. Dabei prägen die Erwartungen der Eltern schon in der Schwangerschaft die Beziehung zum Kind.

1. Phase: Von der Symbiose zur Differenzierung
Während der Schwangerschaft genießt das werdende Kind im Normalfall einen wohligen Schwebezustand im temperierten Fruchtwasser und durch die stetige Nahrungszufuhr über die Nabelschnur eine paradiesische „Rundumversorgung“. Es spürt und reagiert motorisch sowohl auf die Affekte wie auf andere Bewegungen und Umwelteinflüsse der Mutter. Es hört Geräusche wie den Herzschlag oder die Stimmen, kann sogar mit rhythmischen Bewegungen auf Musik reagieren. Andererseits zeigten die Beobachtungen, dass das ungeborene Kind durch Betasten unterschiedliche Wahrnehmungserfahrungen macht, sowohl von sich selbst (z.B. Daumenlutschen) als auch von seiner Umgebung.

Mit der Geburt ändert sich dieser Zustand: Es muss jetzt selber die Atmung übernehmen, die Hautgrenzen werden durch Temperaturunterschiede und Kleidung spürbar, der Hunger bemerkbarer. Nach der Geburt macht der Säugling die Erfahrung, dass nicht jedes Bedürfnis sofort befriedigt werden kann. Die damit verbundene Frustration ruft bei ihm Fähigkeiten hervor, die ihn nach und nach zum kompetenten Säugling werden lassen. Er erlebt, dass er durch Weinen und Strampeln (motorische Unruhe), also eigene Aktivitäten, die Aufmerksamkeit der pflegenden Personen wecken kann. Er wird über die Belohnung durch die Bedürfnisbefriedigung in seinem Kompetenzgefühl bestärkt. In dieser Zeit zeigt der Säugling durch Lächeln, dass er die pflegende Person wiedererkennt, und erlebt, dass dies wiederum eine freudige Reaktion hervorruft. Zunehmend beschäftigt sich das Kind täglich mehrere Stunden mit der Untersuchung des eigenen Körpers. Es lernt, sich zu drehen, später zu krabbeln, und freut sich sichtbar über die zunehmende Körperbeherrschung. In Zeiten des Stillens wiederum ist der Säugling auf das Innigste mit der Mutter verbunden.
Durch die parallel laufende psychische Entwicklung des Säuglings löst sich das bis dahin gelebte Einssein (mit allem), die Symbiose mit der Mutter, nach und nach zugunsten einer Differenzierung zwischen dem „Ich“ und den „anderen“ auf.
Thematisch geht es, schon vor der Geburt und erst recht danach, um ein Pendeln zwischen symbiotischer Verschmelzung und Subjekt-Objekt-Differenzierung.

2. Phase: Aus der Dyade (= Zweiheit, Zusammenfassung zweier Einheiten) zur Dreierbeziehung
Freud (um 1900) zeichnete mit seiner Theorie zur ödipalen Phase im 4. – 6. Lebensjahr die Konflikte auf, mit denen das Kind sich auseinandersetzen muss, wenn es anfängt, den gegengeschlechtlichen Elternteil in einer Art lieben und besitzen zu wollen, die ihn in Konflikt mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil bringt. Seit 1971 wird Triangularität (= Dreierbeziehung) als Beziehungsmodell von Geburt an diskutiert.
Der Vater kann durch ein Dazwischen-Gehen als Störenfried, aber auch als Befreier erlebt werden, und zwar sowohl von der Mutter als auch vom Kind.
Inwieweit das Kind im obigen Sinne locker oszillieren (= schaukeln) kann zwischen der Beziehungsform der Dyade und der der Triade, hängt naturgemäß einerseits von der Qualität seiner Beziehung zu den einzelnen Elternteilen, andererseits von der Art der Partnerbeziehung der Eltern ab.
Nicht selten wächst das Kind in Beziehungen zu den Eltern auf, in denen eine liebevolle Beziehungsform zu einem Elternteil eine ebensolche zum anderen Elternteil ausschließt; z.B. wenn Eltern zerstritten sind oder um die Gunst des Kindes rivalisieren (= um den Vorrang kämpfen). Oft wird dadurch das Kind vor die Alternative gestellt, Mutter oder Vater lieben zu dürfen, mit der Konsequenz, dass das Dreieck quasi zu einem Zweieck „zusammenstürzt“.
Normalerweise nimmt schon der Säugling zu beiden Eltern Kontakt auf, wenn diese nicht konkurrieren, sondern in wechselseitiger Abstimmung handeln.

Nur wenn die frühe Triangulierung unzureichend bewältigt wurde, wird die ödipale Phase im Alter von 4 – 6 Jahren, in der es noch einmal um das Thema der triadischen Beziehung geht, zu einem Drama werden – so wie Freud es beschrieben hat. Denn in dieser Phase möchte das Kind spielerisch ausprobieren, wie eine ausschließliche Liebe (nicht Sexualität!) zum gegengeschlechtlichen Elternteil aussehen könnte. In der Fantasie möchte es den gleichgeschlechtlichen Elternteil von der Seite des gegengeschlechtlichen Elternteils verdrängen, ihn ersetzen. Dadurch werden vier Konfliktthemen heraufbeschworen:

1. Es droht der Verlust der Liebe des gleichgeschlechtlichen Elternteils.
2. Das Kind kann mit gesellschaftlichen Normen (Inzesttabu) in Konflikt geraten.
3. Es kann dazu kommen, dass das Kind von dem gleichgeschlechtlichen Elternteil entwertet und lächerlich gemacht (im erweiterten Sinne „kastriert“) wird, wenn es offensichtliche „Verführungskünste“ inszeniert.
4. Das Rivalisieren mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil steht im Widerspruch zu dem Wunsch, sich mit ihm zu identifizieren.

Exkurs:
Wie kann das entwicklungsfördernde Prinzip der Triangularität bei allein erziehenden Eltern erfahren werden?

Die Antwort auf diese Frage hängt weitgehend von den Erfahrungen der Eltern mit ihren eigenen Eltern ab. Denn jeder Mensch hat Eltern, und die Beziehungserfahrungen mit ihnen werden verinnerlicht, also internalisiert, und als so genannte „Objekt- oder Bindungsrepräsentanzen“ (= Vertretung) in unterschiedlicher Quantität (= Menge) und Qualität (= Beschaffenheit, Güte) als ein Teil der inneren Welt in der Psyche verankert. Quantität und Qualität richten sich nach der Art der erlebten Beziehung: sind sie z.B. liebevoll, bestätigend und verlässlich oder grenzüberschreitend, unstet, entwertend und aggressiv gewesen.
In welchem Umfang eine verinnerlichte Triangularität dem Kind gegenüber vermittelt werden kann, hängt zudem bei allein erziehenden Eltern (und natürlich nicht nur dort) auch davon ab, welche Gefühle er/sie dem nicht vorhandenen Partner gegenüber aktuell hegt.
Ist die Enttäuschung und Kränkung durch die Trennung groß, so wird dies (zumindest unbewusst) auf das Kind übertragen. Dabei entsteht im Kind, neben der eigenen Enttäuschung, dem fehlenden Elternteil gegenüber ein vermitteltes Bild eines enttäuschenden oder gar bedrohlichen Elternteils – später als symbolischer Elternteil als Drittem im Bunde.
Entsprechend schwach wird im Kind das trianguläre Prinzip verankert sein, und um so existenzieller wird sich die Abhängigkeit vom allein erziehenden Elternteil anfühlen.
Soweit die Trennung der Eltern mit der Schwangerschaft und Geburt des Kindes zu tun hat, wird auch dies, ob ausgesprochen oder nicht, dem Kind vermittelt. Es wächst dann mit der Vorstellung auf: „Ich bin an der Trennung der Eltern schuld.“ Diese vermeintliche Schuld macht das Kind für die Versuchung anfällig, als Wiedergutmachung den Platz als Trost spendender Partner(in)-Ersatz bei dem Elternteil, bei dem es geblieben ist, einzunehmen. Dadurch engt das Kind unbewusst den Spielraum für eigene Erkundungsbedürfnisse ein.

Zu solchen Fantasien tendieren kleine Kinder ohnehin, neigen sie doch dazu, sich als Mittelpunkt des Geschehens zu erleben, und somit verantwortlich für alles, was um sie herum geschieht.
So kann eine andere, für das Kind sehr belastende Idee dazukommen: „Ich war es nicht wert, dass der Vater bzw. die Mutter bei mir geblieben ist.“
Diese Vorstellung kann entstehen, auch wenn die Trennung ganz allein durch eine konflikthafte Paarproblematik motiviert gewesen ist.
Wenn dem Kind dann eine Partner(in)-Ersatzrolle beim zurückgebliebenen Elternteil „angeboten“ wird, nimmt das Kind die mit dieser Rolle verbundenen Aufwendung begierig auf. Das aus dieser Dynamik (= Schwung, Triebkraft) entstehende Selbstwertgefühl des Kindes weist dann sehr divergierende (= gegensätzliche), inkonsistente (= keinen Bestand habende, unhaltbare) Züge auf: einerseits die Vorstellung, für einen Elternteil unwichtig geworden zu sein, andererseits für den Elternteil, bei dem es geblieben ist, durch eine Prinzessinnen- oder Prinzenrolle gebraucht und aufgewertet zu werden.
Vor einem solchen Hintergrund ist es für das Kind sehr schwer, eine realistische Selbsteinschätzung zu entwickeln. Oft schwankt es zwischen einem überheblichen Dominanzverhalten und dem Bedürfnis, immer im Mittelpunkt zu stehen einerseits, und einer durch Kritik, und sei sie auch nur geringfügig, ausgelösten, enormen Kränkbarkeit anderseits.
Diese Konstellation bildet oft den Hintergrund für die Entwicklung einer narzisstischen (= Mensch, der sich selbst bewundert) Persönlichkeitsstörung.

Aktuellen Studien zeigen bei 70 % der Kinder von Alleinerziehenden Risikobindungen und ein deutlich erhöhtes Risiko psychische Störungen zu entwickeln, Suizidversuche zu unternehme oder Drogen zu missbrauchen.
Bei Kindern von allein erziehenden Eltern, die über ausreichende trianguläre Erfahrungen aus der eigenen Kindheit verfügen und den Kontakt zum anderen Elternteil positiv fördern sowie dem Kind Beziehungen mit anderen erwachsenen Elternfiguren ermöglichen, besteht kein Risiko einer psychischen Fehlentwicklung.

3. Phase: Von der Abhängigkeit über Individuation (= psych. Reifungs-, Wachstums und Differenzierungsprozess des Selbst, Entwicklung einer Persönlichkeitsstruktur) zur Autonomie (= Selbständigkeit, Willensfreiheit)
Mit 10 – 12 Monaten stellt sich das Kind „auf die eigenen Füße“ und ist damit in der Lage, die Umgebung aktiv zu erkunden. Sein Interesse richtet sich nicht mehr vornehmlich auf Personen, sondern zunehmend auf Gegenstände, die es betastet und mit dem Mund befühlt.
Die motorischen Fortschritte schaffen dem Kind eine neue Unabhängigkeit. Es muss nicht überall hingetragen werden, es kann selbständig Ziele für seine Erkundungen ins Auge fassen und erreichen.
Mit der Ergänzung der Ernähung durch andere Lebensmittel tritt parallel hinzu, dass das Stillen und die damit verbundene Abhängigkeit von der Mutter im ersten Lebensjahr nach und nach in den Hintergrund tritt. Das Abstillen symbolisiert die Auflösung der symbiotischen Beziehung zur Mutter (Symbiose = Zusammenleben verschiedener Lebewesen zum gegenseitigen Nutzen).

Eine Art Hilfsmittel in der Entwicklung von mehr Unabhängigkeit des Kindes stellen die so genannten Übergangsobjekte dar. Das können Lieblingstier, Puppe, Lappi, T-Shirt der Mutter, etc. sein, die beim Wunsch, sich zu beruhigen, als vom Kind allein beherrschter Ersatz für die pflegende Person dienen.
Die erkämpfte Unabhängigkeit ist in dieser Phase naturgemäß noch äußerst wackelig; kleine Niederlagen sind alltäglich. Das schier untröstliche Weinen hierüber, selbst wenn nichts wirklich weh tut, zeigt, wie ernst es dem Kind mit der Erlangung und Erhaltung von mehr Selbständigkeit ist.
Es folgt, ungefähr zwischen dem 12. und 36. Monat, eine Phase, in der die Sprachentwicklung zur Darstellung eigener Wünsche zu weiterer Autonomie beiträgt. War die Verständigung mit der Umgebung bis dahin durch Stimme, Mimik und Motorik bestimmt, führt eine zunehmende Fähigkeit zur Symbolisierung (= sinnbildliche Darstellung) nun dazu, dass Personen und Dinge mit Worten benannt werden. Bald wird das „Nein“ ein fester Bestandteil des Vokabulars; es stellt eine wichtige verbale Grenzziehung seitens des Kindes dar. Oft ist es in dieser Phase so wichtig, den eigenen Willen zu behaupten, dass schon aus Prinzip die Weigerung oder das Nein eingesetzt wird.
Die negativ konnotierte Bezeichnung (Konnotation = Begleitvorstellungen (oft emotionale), die ein Wort neben deren rein begrifflichen Inhalt hervorruft) „Trotzphase“ für diesen Entwicklungsabschnitt zeugt von der oft erlebten Ohnmacht vieler Eltern im Kampf mit dem Kind darum, wer sich durchsetzt.
In dieser Zeit, auch anale (Anus = Enddarm-Öffnung) Phase bezeichnet, gelingt es dem Kind die mit viel Stolz vollbrachte Kontrolle über die Ausscheidungsfunktion zu erlangen. (Der Schließmuskel des Po´s lässt sich erst ab dem Alter von ca. 1 ½ Jahren willkürlich steuern.) So kann das Kind nun selbst steuern, ob und wann die Eltern dieses von ihm selbst produzierte Geschenk vom Kind bekommen. Daher der Wunsch, sein Produkt zu zeigen und mit Lob bedacht haben zu wollen.
So gilt diese Separation-Individuations-Phase insgesamt als ein Symbol für die wachsende Autonomie und damit verbundene Unabhängigkeit von den Eltern.
Dabei führen oft genug kleine und größere Niederlagen dazu, dass das Kind die Nähe zum Trost spendenden Elternteil und Rapprochement (= Wiederversöhnung) sucht. Nicht selten ruft auch der eigene Mut des Kindes eine Angst in ihm hervorruft, die es wieder klein (regressiv) werden lässt. Überhaupt ist das Selbstsicherheits- und Selbstwertgefühl des Kindes – also der narzisstische Bereich – in dieser Phase äußerst schwankend. Das Selbstwertgefühl wechselt schnell zwischen Gefühlen des Triumphes und der Grandiosität einerseits und der totalen Wertlosigkeit andererseits. Lob aber auch Kritik von Seiten der Erwachsenen werden in diesem Alter vom Kind äußerst ernst genommen!
Je nachdem, wie die Eltern in der Lage sind, auf die Unabhängigkeitsbestrebungen des Kindes zu reagieren, können sich aus dieser Phase unterschiedliche Störungsbilder entwickeln. Auch wenn wir noch nicht in der Lage sind, sicher zu sagen, welche Reaktionen der Eltern welche Störungen eines Kindes (mit-)bedingen, so mag es doch plausibel (= einleuchtend, verständlich, glaubhaft, stichhaltig) erscheinen, anzunehmen, dass Eltern, die dem Kind bei seinen Selbstständigkeitsbestrebungen Schuldgefühle machen, eher eine Disposition (= Anfälligkeit) zu depressiven Reaktionen hervorrufen; reagieren sie mit Panik, entsteht eine Bahnung in Richtung Borderline-Störung; reagieren sie mit Bestrafung durch einen Rückzug im Kontakt, wird eine narzisstische oder schizoide Störung gefördert; bei kontrollierender Strenge und Disziplinierung eine Tendenz in Richtung Zwangsneurose.

4. Phase: Aus der Primär(= erste)gruppe in die Sekundärgruppe (=zweite, zweitrangige)
Die primären Bezugspersonen, die beiden Eltern, sind in der Regel neben Geschwistern die wichtigsten Vertrauenspersonen für das Kind.

Je nachdem, ob die Familie relativ isoliert lebt oder im nahen Kontakt mit der erweiterten Familie oder Freunden und Nachbarn steht, macht das Kind Erfahrungen, dass es außerhalb der eigenen Kernfamilie Personen gibt, die neue und andersartige Beziehungsmodalitäten (= Art und Weise des Seins, Denkens, Sprechens, Handelns) anbieten.

Den ersten großen eigenständigen Schritt in die Außenwelt stellt der Besuch des Kindergartens dar. Hier kann das Kind seine sozialen Kompetenzen erweitern; es lernt, sich in einer Gruppe zu behaupten, aber auch zu teilen und Rücksicht zu nehmen.

Auch die Schule gehört später zu der außerfamiliären Sekundärwelt, in der das Kind in der Latenzphase (= Ruhephase der sexuellen Entwicklung beim Menschen zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr) Bestätigung durch Lernerfolge erzielen und weitere Erfahrungen in den sozialen Beziehungen, in einer Peergroup (= Gruppe der Gleichaltrigen), machen kann und muss. In sportlichen, musikalischen oder anderen kreativen Bereichen können eigene Anlagen zur Entwicklung gebracht werden, die seine Individualität (= persönliche Eigen- und Einzigartigkeit) und Identität (= die als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person) ausbauen und festigen.

Das Misslingen dieses Entwicklungsschrittes kann sich in Fehlanpassungen zeigen, in zwanghaftem Streben im Leistungsbereich oder als Schulphobie bei Problemen in der Familie, die einem Loslassen von ihr im Wege stehen.

5. Phase: Identitässuche und Genitalität (= Sexualität des Kindes) in der Pubertät
Durch die aufkommenden sexuellen Triebimpulse im Alter von (10) 12 bis 16 Jahren entsteht die Notwendigkeit, die damit verbundenen Bedürfnisse in der Außenwelt auszuleben.

Je größer die Abhängigkeit von den Eltern gewesen ist, desto stürmischer verläuft oft die Ablösung von ihnen. Die Art, sich aufzulehnen, sich zu widersetzen, zu revoltieren, zeugt davon, welchen aggressiven Kraftaufwand die progressive Befreiung aus den kindlichen Bindungen erfordert.

Bei fehlender Orientierung können Dissozialität (= misslingende Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft), Sucht und Schulleistungsversagen die Entwicklung gefährden. Sie kann aber auch in eine Stagnationskrise münden, wie z.B. bei Pubertätsmagersucht oder Psychosen bei Jugendlichen.

Die Frage nach der Geschlechtsidentität kann verwirrende Gefühle hervorrufen, und vorübergehende homoerotische Fantasien und Wünsche können Ängste vor einer bleibenden homosexuellen (= zum eigenen Geschlecht hinneigende) Veranlagung und gesellschaftlicher Diskriminierung (= herabsetzender, herabwürdigender ungleicher Behandlung) auslösen.

Konsequenzen aus der entwicklungspsychologischen Phasentheorie
Jeder Entwicklungsschritt stellt das Kind vor zwei zu bewältigende Aufgaben:
Das Kind muss sich aus bisher vertrauten Beziehungen lösen, muss z.B. auf Intimität und Harmonie in der symbiotischen Beziehung zur Mutter verzichten, wenn die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich deutlicher werden. Es muss vorübergehend auf die Dyade verzichten, um sich auf die triadische Beziehung zum Vater einzulassen. Später muss es sich freimachen von der Abhängigkeit von den Eltern, um Schritte in Richtung Autonomie zu vollziehen. Dann verlässt es die vertrauten Beziehungen in der Primärgruppe, um neue Erfahrungen in der Sekundärgruppe zu machen. Und schließlich löst es sich in der Pubertät nach und nach von den Eltern, um eine eigene Identität zu entwickeln und sexuelle Bedürfnisse außerhalb der Familie zu befriedigen.

Es sind also immer mit Ablösung und Trennung verbundene Schritte, die vollbracht werden müssen, die Mut erfordern und Angst machen, um Reifung und Entwicklung zu ermöglichen. Das geht um so besser, je zuverlässiger und tragfähiger die vorhandenen Bindungen sind.

Das aufregende Neue bei diesen Entwicklungsschritten besteht für das Kind darin, dass es zum einen neue Beziehungserfahrungen macht, die eine Erweiterung der bisherigen Erfahrungen bedeuten. Daraus resultiert (= entspringt, die Folge von etwas sein) für das Kind ein Repertoire (= eigentlich Fundstädte, Vorrat) an zunehmend differenzierteren (= getrennten, unterschiedlichen) Beziehungsmodalitäten. Dadurch wird das Kind im schrittweisen Ausbau seiner Autonomie und in der Entwicklung seiner Identität bestärkt.
Wenn diese Entwicklungsschritte gelingen, entsteht ein gesundes Maß an realistischer Selbsteinschätzung.

Bei näherer und verallgemeinernder Betrachtung geht es also immer wieder darum, objektbezogene Kontaktbedürfnisse (vorübergehend) zu opfern, zugunsten von Besterbungen in Richtung narzisstischer Selbstverwirklichung.

Wie schon gesagt, stellen diese beiden Bedürfnispole einander ergänzende Strebungen dar, die sich im Sinne eines „sowohl-als-auch“ miteinander verwirklichen.

(Zusatz aus: Nervenheilkunde 12/2008, 27, 1079-1082,
Metaphern und Körperlichkeit (I), Prof. Dr. Dr. M. Spitzer, Ulm
und: desgl., 1138-1146,
Psychotherapie als evidenzbasiertes Prozessmanagement, Prof. Dr. G. Schiepek, Salzburg)

Schaut man sich die menschliche Informationsverarbeitung an, deren Eigenschaften man heute schon recht versteht, findet man unser Gehirn modular (= aus Bausteinen, Bauelementen) aufgebaut. Das heißt, es enthält einzelne Bereiche, die auf bestimmte Aspekte der Verarbeitung von Realität (= das, was außerhalb des Denkens existiert) spezialisiert sind: Farben, Bewegungen, Gesichter, Laute, Berührungen, Gerüche, Objekte, Landschaften.

Zugleich sind diese Module jedoch untereinander vernetzt.

Die Informationen fließen dabei in beide Richtungen: also wenn das Areal A von Areal B Informationen bekommt, dann schickt es meistens auch Informationen an Areal A zurück. Dieses Hin und Her der Informationen ist die Verarbeitung.

Das heißt, zentralnervöse Informationsverarbeitung besteht nicht darin, dass einzelne Module erst für sich arbeiten und dann ihre Ergebnisse weiterschicken. Vielmehr gehen sie miteinander von Zustand A in Zustand B über.

Das Gehirn funktioniert nicht als serielles (= reihen, zeitlich nacheinander) Input-Output-System, bei dem sich durch eine bestimmte Intervention (= sich einschalten) eine bestimmte Reaktion oder ein voraussagbarer Zustand A oder B hervorrufen lässt. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes selbstorganisierendes System, in dem Nichtlinearität (= nicht in Linie, also keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herrschen; Sprünge sind möglich; da Hemmungen und Bahnungen interaktiv das Zusammenspiel modulieren) schon innerhalb der Neuronen, erst Recht zwischen Neuronen und Neuronenverbänden (z.B. in den zahlreichen gemischten Feedback-Schleifen des Gehirns) zur Wirkung kommen. Der wechselseitige Einfluss der Teile ist von den Zuständen der Teile abhängig.

Darauf bauen nichtlineare Resonanzeffekte (= Widerhall + bewirken) auf, die unzähligen gesunden (z.B. Bindungsprozesse) wie pathologischen (= krankhafte) Prozessen zugrunde liegen.

Über dieses Bild lässt sich verstehen, dass in solchen Systemen Phänomene (= Erscheinungen) wie z.B. spontane Musterbildung, Selbstorganisation, Ordnungsübergänge mit kritischen Instabilitäten, Synchronisationsprozesse (= zeitlich zusammen ablaufende Vorgänge) oder nicht lineare (= gerade) Dynamiken (= seelischen Abläufe) auftreten. Solche Systeme (= Gebilde) können adaptiv (= anpassend) und flexibel (= biegsam) arbeiten, sie kombinieren (= zusammenstellen, verbinden) Stabilität (= Standhaftigkeit) und Instabilität (= Beweglichkeit).

Psychotherapie, in diesem neuen Verständnis, wäre dann nicht die Durchführung von Interventionen im Sinne von Umweltreizen, durch die das System zu einer ganz bestimmten Reaktion veranlasst werden soll, sondern ein Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von systeminterner Selbstorganisation.



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